Diana Krall war so etwas wie der personifizierte Superlativ des Jazz. Die Beste, die Erfolgreichste, von der Kritik mit den meisten Lorbeeren überschüttet, mit den höchsten Preisen ausgezeichnet, mit unerhörten Verkaufszahlen gesegnet, hofiert von Kritikern, Publikum, Hollywood und High Society. Eine singende und Piano spielende Sensation von New York über Paris bis Tokyo, die unnahbare, kühle Blondine, das schöne neue Gesicht des Jazz. Doch sie wollte mehr. Musik statt Fotos machen, Klavier- statt Schauspielen. Zwar ging sie in den letzten Jahren regelmäßig ins Studio, um immer noch bessere, noch perfekter arrangierte und produzierte Alben einzuspielen. Doch die meiste Zeit verbrachte die Kanadierin mit Wohnsitz in New York damit, live zu spielen. Hatte sie das nötig? Wohl kaum. Dass sie, zumindest musikalisch, nicht nur mehr will, sondern auch kann, beweist sie jetzt auf eindrucksvolle und überraschende Art und Weise mit ihrem neuen Album „The Girl In The Other Room“. Oberflächlich betrachtet finden sich darauf die altbewährten Zutaten: Eine Quartettbesetzung mit Musikern wie Gitarrist Anthony Wilson, Bassist Christian McBride oder Drummer Jeff Hamilton, dazu die Produktion von Tommy LiPuma und die Handwerkskunst von Toningenieur Al Schmitt, aufgenommen in den Capitol Studios in Hollywood und den New Yorker Avatar Studios. Wer genau hinhört, wird allerdings eine deutlich persönlichere Diana Krall spüren, vielleicht sogar einen neuen musikalischen Weg – reifer, eigener, mutiger und offener denn je.
Das neue Album, das erste, das die inzwischen 40-jährige gemeinsam mit Tommy LiPuma produziert hat, begnügt sich nicht mit intimen Interpretationen altbewährter Standards, obwohl es auch wundervolle Arrangements einiger Stücke von Tom Waits, Mose Allison oder Joni Mitchell zu bieten hat. Vor allem präsentiert sich Diana Krall auf diesem, ihrem achten Album, als grandiose, gefühlvolle Songwriterin. Sechs der zwölf Songs sind Eigenkompositionen, oft mit Texten oder zumindest zusätzlichen Zeilen ihres Ehemanns, eines gewissen Elvis Costello. Immer berührend, oft melancholisch, manchmal sentimental sind diese Songs trotz musikalischer Sophistication bemerkenswert eingängig und denkbar merkwürdig. Die zarten Melodien – Pop im eigentlichen Sinn des Wortes – fallen auf und bleiben hängen. Je öfter man „I’m Coming Through“, „Narrow Daylight“, „I’ve Changed My Address“ oder „Departure Bay“ hört, desto mehr meint man, sie eigentlich immer schon gekannt zu haben. Die Originalität und Qualität dieser Musik ist offensichtlich, obwohl sie sich vor allem in gekonnten Details und gefühlten Nuancen zeigt. Es kommt nicht nur darauf an, was gesungen, gesagt und gespielt wird, sondern vor allem wie. Erwachsener kann moderne, populäre Musik kaum sein.
Diana Krall eröffnet „The Girl In The Other Room“ mit einem Blues, der angenehm ironischen und typisch zynischen Mose Allison-Nummer „Stop This World“. Ein subtiler Befreiungsschlag, der gleich zu Anfang klarstellt, dass es ihr in dieser Welt nicht um Stolz und Status geht. Ihre Welt dreht sich um gute Musik, echtes Talent und tiefe Emotionen. Was man allein daran merkt, wie souverän sie ihr Eingangsstatement nicht nur singt, sondern sich dabei auch besser denn je auf dem Klavier begleitet.
Der Titelsong, das erste von sechs Originals, die das Team Krall & Costello für dieses Album in der Tradition von Rodgers & Hart oder vielleicht auch Lennon & McCartney geschrieben hat, zeigt Diana Krall als deutlich „andere“, sprich reifere, selbstsicherere, „eigenartigere“ Interpretin, als je zuvor. Das Porträt einer mysteriösen, liebesverwirrten Frau lebt vor allem von der stimmlichen Ausdruckskraft der „Erzählerin“, allerdings auch von ihrem entspannt swingenden Klavierspiel und der virtuosen Begleitung ihrer langjährigen Mitstreiter Jeff Hamilton am Schlagzeug und John Clayton am Bass. Diese „neue“ interpretative Qualität, eine schonungslose Offenheit oder verletzliche Schönheit, offenbart sich vor allem in ihren eigenen Songs. Dem reflektiven „I’ve Changed My Address“, dem wunderschönen „Narrow Daylight“ und dem unendlich traurigen, schlußendlich doch noch hoffnungsfrohen „Departure Bay“, das den Bogen vom ersten Weihnachtsfest mit der Familie nach dem Tod ihrer Mutter bis zur Heimfahrt zu ihrer neuen großen Liebe, ihrem Ehemann Elvis Costello, schlägt. „Ich habe in den letzten Jahren eine Reihe schwerer persönlicher Verluste und tiefschürfender Veränderungen erlebt“, erzählt Diana Krall. „Statt mich abzuschotten und zu verzweifeln, habe ich diese Songs geschrieben. Zuerst habe ich die Musik geschrieben, dann sprachen Elvis und ich darüber, worum es in den einzelnen Songs gehen sollte. Ich habe ihm Geschichten erzählt und Seite um Seite mit Erinnerungen, Beschreibungen und Eindrücken aufgeschrieben, die er dann in eine lyrische Form gebracht hat.“ Egal was sie singt, auch Tom Waits „Temptation“ oder Joni Mitchells „Black Crow“ und „Almost Blue“ von Elvis Costello (das ja schon Chet Baker immer wieder gern gesungen hat), sie macht sich alles unnachahmlich und unwiderstehlich zu eigen. Man fühlt, was sie singt. Und das jagt einem immer wieder wohlige Schauer der Erkenntnis über den Rücken.
Geboren in Nanaimo in British Columbia, unweit von Vancouver, begann Diana Krall schon mit vier Jahren Klavier zu spielen. Angestiftet von ihrem Vater, einem versierten Stride-Pianisten, studierte sie alte Meister wie Fats Waller, James P. Johnson und Earl Hines, bevor sie mit 15 ihren ersten öffentlichen Auftritt in einer Bar hatte. Sie war noch ein Teenager, als sie ein Stipendium für das legendäre Berklee College of Music in Boston annahm. Nach zwei Jahren in Boston zog sie um nach Los Angeles, wo sie Jazzlegenden wie den Bassisten John Clayton, den Sänger und Pianisten Jimmy Rowles und den Bassisten und Bandleader Ray Brown kennenlernte. Drei Jahre verbrachte sie an der Westküste, bevor sie zurück nach Toronto zog. Schon bald darauf nahm sie ihr Debütalbum „Stepping Out“ für das Label Justin-Time in Montreal auf. 1994 ging sie nach New York und unterschrieb einen Plattenvertrag mit dem GRP-Label, für das sie wenig später „Only Trust Your Heart“, u.a. mit Ray Brown am Bass und Stanley Turrentine am Saxophon, einspielte. Schon dieses Album wurde von Tommy LiPuma produziert, dem Wegbereiter einiger der grandiosesten Alben für Ikonen von Barbra Streisand bis George Benson. LiPuma zeichnete auch für die Produktion ihrer folgenden Alben für GRP, Impulse! und schließlich Verve verantwortlich, von „All for You: A Dedication to the Nat „King“ Cole Trio“ im Jahre 1995 über „Love Scenes“ von 1997 oder „When I Look In Your Eyes“ (1998), „The Look of Love“ (2001) und auch „Live in Paris“ aus dem letzten Jahr. „Ich habe nie zuvor so viele Alben in Folge für einen Künstler produziert“, erzählt der Erfolgsgarant. „Diana und ich haben eine so angenehme und gute Art und Weise, zusammen zu arbeiten, dass es uns beiden immer wieder leicht fiel. Wenn einer von uns einen Vorschlag machte, hörte der andere ihm immer zu. Wir respektieren einander.“ Der große kommerzielle Durchbruch kam für Diana Krall, deren Alben sich immer gut, aber nie besser als vergleichbare Pop-Produktionen verkauft hatten, mit „When I Look in Your Eyes“. Nicht nur, dass sich das Album rekordverdächtige 52 Wochen auf Platz 1 der Jazzcharts des Billboard halten konnte, außerdem brachte es ihr zwei Grammys in den Kategorien „Best Jazz Vocal Performance“ und „Best Engineered Album, Non-Classical“ ein. Nicht zu vergessen die Nominierung, neben Santana, den Backstreet Boys, Dixie Chicks und TLC, in der Kategorie „Album of the Year“ und ihre damals fast revolutionären Auftritte beim Lilith Fair. Das Album erreichte schließlich Platinstatus in den USA (für über eine Million verkaufte Einheiten!), Doppelplatin in Kanada, Platin in Portugal und Gold in Frankreich. Mit ihrem nächsten Studioalbum „The Look Of Love“ konnte sie diese Erfolge eindrucksvoll übertreffen. Bei seiner Veröffentlichung im September 2001 stieg das Album auf Platz 9 der Billboard 200 (der Popcharts also) ein und verkaufte allein in den USA in der ersten Woche seiner Veröffentlichung 95.000 CDs. „Das besondere an Diana ist ihre Musikalität“, meinte Tonmeister Al Schmitt in einem Interview mit der Los Angeles Times. „Mehr als irgendein Sänger sonst weiß sie, was richtig für sie ist und wie sie es musikalisch umsetzen muss.“ Ein Kompliment, das auch und besonders für „The Girl In The Other Room“ gilt. Während sich über die Jahre immer wieder neue Wettbewerberinnen auf den Thron der erfolgreichsten Jazzsängerin angemeldet haben, erfindet Diana Krall, die Anstifterin des momentan grassierenden Vocalistinnen-Wahnsinns, die Regeln kurzerhand neu. Sie findet immer neue, interessante und mutige musikalische Ausdrucksmöglichkeiten und bleibt dabei vor allem sich selbst und ihren hohen Ansprüchen treu. Besser geht’s nicht.